Zur Genealogie der Moral by Nietzsche

Zur Genealogie der Moral by Nietzsche

Author:Nietzsche
Language: deu
Format: epub
Publisher: (Privatkopie)
Published: 2010-12-04T16:00:00+00:00


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Man wird bereits erraten haben, was eigentlich mit

dem allen und unter dem allen geschehen ist: jener

Wille zur Selbstpeinigung, jene zurückgetretene

Grausamkeit des innerlich gemachten, in sich selbst

zurückgescheuchten Tiermenschen, des zum Zweck

der Zähmung in den »Staat« Eingesperrten, der das

schlechte Gewissen erfunden hat, um sich wehzutun,

nachdem der natürlichere Ausweg dieses

Weh-tun-wollens verstopft war - dieser Mensch des

schlechten Gewissens hat sich der religiösen Voraus

setzung bemächtigt, um seine Selbstmarterung bis zu

ihrer schauerlichsten Härte und schärfe zu treiben.

Eine Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird ihm

zum Folterwerkzeug. Er ergreift in »Gott« die letzten

Gegensätze, die er zu seinen eigentlichen und unab

löslichen Tier-Instinkten zu finden vermag, er deutet

diese Tier-Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott

(als Feindschaft, Auflehnung, Aufruhr gegen den

»Herrn«, den »Vater«, den Urahn und Anfang der Welt), er spannt sich in den Widerspruch »Gott« und

»Teufel«, er wirft alles Nein, das er zu sich selbst, zur

Natur, Natürlichkeit, Tatsächlichkeit seines Wesens

sagt, aus sich heraus als ein Ja, als seiend, leibhaft,

wirklich, als Gott, als Heiligkeit Gottes, als Richter

tum Gottes, als Henkertum Gottes, als Jenseits, als

Ewigkeit, als Marter ohne Ende, als Hölle, als Unaus

meßbarkeit von Strafe und von Schuld. Dies ist eine

Art Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit,

der schlechterdings nicht seinesgleichen hat: der Wille

des Menschen, sich schuldig und verwerflich zu fin

den bis zur Unsühnbarkeit, sein Wille, sich bestraft

zu denken, ohne daß die Strafe je der Schuld äquiva

lent werden könne, sein Wille, den untersten Grund

der Dinge mit dem Problem von Strafe und Schuld zu

infizieren und giftig zu machen, um sich aus diesem

Labyrinth von »fixen Ideen« ein für allemal den Aus

weg abzuschneiden, sein Wille, ein Ideal aufzurich

ten - das des »heiligen Gottes« -, und angesichts

desselben seiner absoluten Unwürdigkeit handgreif

lich gewiß zu sein. O über diese wahnsinnige traurige

Bestie Mensch! Welche Einfälle kommen ihr, welche

Widernatur, welche Paroxysmen des Unsinns, welche

Bestialität der Idee bricht sofort heraus, wenn sie nur

ein wenig verhindert wird, Bestie der Tat zu sein!...

Dies alles ist interessant bis zum Übermaß, aber auch

von einer schwarzen düsteren entnervenden Traurigkeit, daß man es sich gewaltsam verbieten

muß, zu lange in diese Abgründe zu blicken. Hier ist

Krankheit, es ist kein Zweifel, die furchtbarste

Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewütet hat -

und wer es noch zu hören vermag (aber man hat heute

nicht mehr die Ohren dafür! -), wie in dieser Nacht

von Marter und Widersinn der Schrei Liebe, der

Schrei des sehnsüchtigsten Entzückens, der Erlösung

in der Liebe geklungen hat, der wendet sich ab, von

einem unbesieglichen Grausen erfaßt... Im Menschen

ist so viel Entsetzliches!.. Die Erde war zu lange

schon ein Irrenhaus!...



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